poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 94. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  94. Nachwort

Und trotzdem: Ex oriente lux



 

Szenen aus der franzö­sischen Emigration –
Peter Zudeick und sein Bloch-Buch Der Hintern des Teufels




Das Buch. Das andere Buch. Es gibt zu viele Bücher, zu viele gemachte und kal­ku­lierte Bücher. Sie halten vom Leben ab, ver­wässern und langweilen. Sie drücken nicht das Leben aus. In der infla­torischen Hoch­flut von Gedrucktem und Gebun­denem wird das BUCH wieder wichtig, das schmerzvoll geschrie­ben werden und gelesen werden muss und wie das Leben eines Menschen selbst ist – einmalig, un­wieder­bring­lich, un­wie­der­hol­bar, unüber­schau­bar, nicht rest­los zu begrei­fen. So ein Buch ist die physische Existenz der Liebe selbst, eine Ejakulation, KOPF und BAUCH haben ejaku­liert, sind auf­gegeilt und aus­gepresst worden. Das ist nicht Be­schrei­bung, Schil­derung, Denken, Fühlen, Angst, Glück, Tod, Leben, Vögeln, Impotenz, Blut, Krebs, Papier, das ist dies alles und noch viel mehr und wirk­lich der Versuch ALLES zu sein, zu werden, zu geben, das ist gänzliche Rück­sichts­losig­keit sich selbst gegen­über und gegenüber den Freunden, Feinden, Kriti­kern, Staaten, Ideo­logien, ästhe­tischen Wer­tungen, die völlige Auf­hebung aller Tradi­tionen, Formen, Ver­ständi­gungs­kate­gorien, das Ende der Polemik, die Aus­lieferung des Ich, die gleich­mütige, unge­rührte Hin­nahme von Miss­ver­ständ­nissen, Straf­expedi­tionen, von Gewalt, Hohn und dem fan­tasti­schen Reichtum men­schen­fres­seri­scher Exzesse. Das ist ein Buch, das sich und seinen Urheber unge­schützt in die Freiheit der Todes­kul­tur, in die damp­fenden Hal­len der Schlacht­höfe ent­lässt – die Stirn dem Bolzen­schuss, die Kehle dem Messer gebo­ten, dies ist mein Leib, den IHR fres­sen wollt, dies mein Kopf, den IHR gekocht und gar­niert in die Schau­fens­ter stellt. So nehmt denn hin, Konsu­menten. Ich werde zwi­schen EUREN Zähnen zer­mahlen, wandere in EURE Mägen, kreise durch EURE Adern, besetze EURE Nerven und Gehirn­zellen von innen. Ich werde in EUER Sperma eingehen und EURE Nach­kommen zeugen und sie auf­rüh­rerisch machen und gegen EUCH sich er­heben lassen. So nehmt denn hin, Kanni­balen.

Die vorstehende Passage nimmt sich aus als gehöre sie noch zum 93. Nachwort. Das trifft zwar zu, der Text wurde jedoch schon im 28. Nachwort vorgelegt. Auch das war keine Premiere. Sie spielte bereits 1971 in Kopf und Bauch – Unter­titel: Die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intel­lektuel­len gefallen ist. (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main) Doch das genügt nicht. Offenbar hält das Thema Kopf und Herz des Autors besetzt. Es geht um den Blick derer, die nicht aus Langeweile schreiben. Es geht um Liebe, Hass, Schmerz, Tod, Ver­geblich­keit, Klassen­kampf und Freiheit statt Freitod.
  Beim träge dahin­schweifenden Blick übers Fernsehprogramm sticht ein Titel hervor: Bucht der Mil­liar­däre – ja wie denn, was denn, sammeln die Kanaillen nach den Banken und Immobilien nun schon ganze Buchten ein? Früher genügte die eigne Yacht zum standes­gemäßen Mil­lionärs­dasein. Der Mil­liar­där hat's schwär und braucht die eigene Bucht dazu, sich von den ärmeren reichen Schluckern abzu­grenzen. Schon titelt der flotte Günther Jauch ganz von der Höhe der Zeit herab Wer wird Milliar­där? RTL übernimmt von der ARD die poli­tische Sonntag­abend-Talkshow und die vereinigten ARD/ZDF ver­schaffen den armen Mil­liar­dären die sonn­täg­liche Möglich­keit öffent­licher Trans­parenz. Eine Bucht für die goldene Sucht ist schon vorhanden, nahe Sanssouci mit dem einge­lagerten Alten Fritzen samt edler Wind­spiel-Zucht. In der ersten Runde von Wer wird Mil­liardär? schlägt Helmut Schmidt den Genossen Peer Steinbrück vor, was der dankend ablehnt. Er ist es längst. Nach der Billion kommt den Eliten der Billiar­där in Sichtweite. Die SPD freut sich auf ihren kom­menden Bundes­kanzler, gegen den Ost-Angela keine Chance haben wird, denn Geld regiert die Welt. Betend holen sie ihre Panzer, Raketen und Drohnen vom Band.

Ludwig Marcuse lebte nach seiner Rückkehr aus den USA in Bad Wiessee am Tegern­see. Dort besuchte ich ihn und er erin­nerte sich an ein gemein­sames Mittag­essen mit Bloch im legen­dären fran­zösischen Exil-Ort Sanary-sur-Mer. Bloch habe von drei Sätzen gesprochen, die nie aufg­eschrie­ben würden und nur mündlich von einem Philo­sophen an den nächsten weiter­gegeben werden dürften. Als Marcuse dräng­te, rückte Bloch endlich mit den ge­heimnis­um­witterten Worten heraus. »Es ist nichts. Es war nichts. Es wird nichts sein.« Das wäre blanker Nihi­lis­mus, warf ich ein. Wir saßen in einem Restau­rant mit Blick auf den See und be­kamen das Dessert serviert. Marcuse hielt mit der leicht zittrigen Rechten den Löffel in die Höhe und kicherte: »Bei der Nach­speise, es war wie jetzt hier am Tisch, verriet mir Bloch schließlich noch den vierten Satz:»Es sei denn, du änderst das.« Wir genos­sen unser Eis und waren's zufrieden. Marcuse hatte seine Ein-Mann-Show zele­briert und ich den Anti-Nihilis­ten Bloch wieder­erkannt.
  Ingrid fand die prägnante englische Fassung: »It's nothing. It was nothing. There will be nothing.« Wir nehmen an, Bloch inter­pretierte die Dreier-Sentenz in seiner typischen Erzähl­weise der Anver­wandlung plus Entgegensetzung durch eine vierte Zutat. Das ist jeweils Pro­vokation, Kor­rek­tur, Alter­native. Als Ge­heimnis serviert erhält die Aussage anek­dotische Spannkraft und zählt weiter­greifend zur exis­tentiel­len Sub­jekt­philo­sophie, wie Bloch sie va­rian­ten­reich vorzu­tragen wusste. Bei­spiele sind die 11. Feuer­bach-These von Marx und die Urszene vom »Landregen der Atome« bei Epikur: Die Atome fal­len der Schwer­kraft folgend von oben nach unten, eini­ge aber weichen vom Kurs ab. Will­kür­akt der Natur oder Beginn des Subjekts – Natur­subjekts – Seele, Freiheit, Wille.
  In Peter Zudeicks Bloch-Biographie Der Hintern des Teufels findet sich auf Seite 143 eine ans Zauber­hafte gren­zende Passage, in der Marcuse den Bloch der franzö­sischen Emi­grations­zeit porträ­tiert: »In Sanary hatten wir beson­deres Glück; es kamen die reizendsten Welt­revolu­tionäre an… Unter diesen Mos­kauer Deutschen war einer, gegen den mein Lehrer in Marx Georg Lukács noch ein Primitiver des Dialek­tischen Mate­rialis­mus war: Ernst Bloch. Wer die Phantasie-armen und ver­breiteten Bil­derchen vom Philosophen, vom Denker, vom Weisen zu Hilfe zöge, um sich eine Vorstellung von ihm zu machen, käme zu nichts. Eher ähnelte dieser Mann gewissen legen­dären rabbinischen Schlau­köpfen, die wussten was sie wollten und definitiv wollten, was sie wussten – und in märchenhaften Geschich1en und Geschichtchen, in raf­finierten Thesen, in Wit­zen voll Fußangeln und verspielten Wendungen, die sehr exakt und voll unaus­gewickel­ter Ein­sichten sind, ihre Sache vorwärts trieben.
  Ernst Bloch ist unter anderem auch der bedeutendste Spaßmacher des Wanderzirkus Diamat gewor­den: wendig, ulkig, dogmatisch. Anarchis­tisch, eine barocke Wort-Fontäne. Lukács ist eine respek­table Fa­brik­marke; seit Jahrzehnten steht fest, was hier geleistet wird und was nicht. Bloch ist eine one man show, ein Marxismus mit keinem Vor­gänger und keinem Nachfolger; ein Marxismus auf eigene Faust. Jene Romantiker, die außerdem noch Kobolz schossen, sprachen so ähnlich. wie er.
  Damals in Sanary 1935, als ich ihn kennenlernte, wurde er gerade Fünfzig, man durfte es nicht wissen. Er hatte recht. Vielleicht hätte man das Purzel­baum­schlagen des intel­lektuells­ten Laus­buben nicht so sehr genossen, wenn man den Sprüh­regen von aus­gekochten Bonmots einem Herrn in reiferen Jahren hätte zu­schreiben müssen. Er brach aus jeder korrekten Debatte aus und rhapso­dierte einige Seiten der Phäno­menologie, als sei sie eine lockere Arie, zu welcher der Sänger aller­dings auch sehr sentimentale Bezie­hungen habe. Er sprach wie gedruckt, aber nicht pa­piern, der Druck war nicht drü­ckend, sondern be­rückend. Der Marxismus wurde in seinem Dialekt ein tal­mudisch-bänkel­sänge­risches Klären. Er hatte da­mals soviel Humor wie Brecht Sarkasmus.«
  Aus Marcuses Worten spricht faszinierte Bewun­derung und zugleich die spätere Distanz des früheren Bewun­derers. Mein Besuch in Bad Wiessee diente der Befriedung beider Philosophen – darüber ist in unserem Buch über Ernst Bloch auf Seite 94/95 nach­zulesen. Marcuse ging gern auf die Verfriedlichung ein, begriff jedoch nicht, wie treffend er Bloch charak­terisierte und zugleich verfehlte.

Diese andere Dimension berücksichtigt Jochanan Trilse-Finkel­stein in Ossietzky 24/2004 bei der Re­zension von Sklavensprache und Revolte mit besonderem Augen­merk auf die fatale Rolle Stalins: »Wie war denn das in den Dreißi­gern? Zumal wenn man nicht in Nazi-Deutschland, sondern im Exil war, so wie Bert Brecht es beschrieb? ›Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder/ wechselnd/ Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt/ Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.› Selbst ich, damals noch Kind, merkte Not und Angst und blickte nach Rettung, sah den Sorgenblick der Eltern – wo war da Hoffnung? Wo blieb Frankreich (das bald besiegt ward)? Was tat Großbritannien anderes, als Hitlers For­derungen zu erfüllen, weil es Deutschland als Rammbock gegen die UdSSR benötigte, sich verrechnend freilich (fürs erste)? Wann traten die USA in den Krieg ein? Die Hoffnung trug für uns Exilanten die von Stalin geführte UdSSR. Wir ver­fügten nicht über alle Informationen über deren innere Vorgänge. Auch den durch die Länder gehetzten und später in den USA sich mühselig durchschlagenden Blochs ging es kaum besser. Hämische Kritik aus dem weichen Sessel von heute ist da unan­gebracht. Sondern sorg­same Beschreibung. Zugegeben: Die spätere Preisung ist weniger zu begründen. Hier wollte einer sein Werk retten, ver­zichtete auf Märty­rertum. Die Glashaus-Magnaten sollten nicht Steine werfen – was war denn da in Deutschland los? Was gibt es denn da für Traditionen? Rettete sich da niemand? In dieser einen Frage bin ich auch mit Ingrid und Gerhard Zwerenz (Sklaven­sprache und Revolte. Der Blochkreis und seine Feinde in Ost und West) nicht einig. Leipzig ist geografisch-politi­scher Ort und Zentrum des Buches; Tübingen spielt mit, aber auch der Taunus, wo die beiden leben und schreiben. Das Buch ist unakademisch, dafür literarisch und polemisch. Die Ver­fasser sind Journa­listen, Publi­zisten, Schrift­steller, Schüler des Meis­ters, Gefäh­rten, Ver­traute, Freunde.
  Freunde kennen sich genauer. Da schaut man ins Innerste und kritisiert anders. Ingrid und Gerhard Zwerenz kannten den Alten in Leipzig und begleiteten ihn später, sooft es ging. Sie kannten auch die Widersacher (Rugard Gropp, Siegfried Wagner – warum aber fehlt der Berliner Strippenzieher Hans Koch?) und die Freunde (Hans Mayer, Walter Markov, Wolfgang Harich, Georg Lukács, Walter Janka, die Sonntag-Redakteure, den Ökonomen Fritz Behrens, die Schrift­steller Loest, Pfaff u.a.). Die meisten leben nicht mehr. Sie bil­deten damals eine Gruppe und hatten einen politischen Willen: Opposition und Revolte, eine Reform, ja Refor­mation des dama­ligen sozialis­tischen Staates DDR, des Systems bis in seine geistigen Grundfesten. Der geistige Urheber, der Grund­denker, Marx-Fortsetzer war Bloch, der um­fassende philosophisch-politische Denker der Linken, um nicht zu sagen des 20. Jahr­hunderts überhaupt. Als Kritiker der alten Gesell­schaften wie als Kenner aller Kulturen und als Vordenker von Neuem, als messiani­scher Bot­schafter der Hoffnung. Die oppo­sitio­nelle und revol­tierende Gruppe hin­gegen war zu schwach, die Freunde machten politische Fehler (beson­ders Harich) und schei­terten, das System erst später – in der Haupt­sache, weil es reform­unfähig und kritik­un­willig war. Ihm fehlte, um es blochisch zu sagen, der »Wärmestrom«. Doch das Autoren­paar kriti­siert nicht nur das unbe­holfen-unfreie DDR- und Sowjet-System, sondern prin­zipiell und scharf auch das alte kapita­listische, das heute globalis­tisch das gesamte Deutschland und viel mehr regiert. Eine »Refor­mation« täte not, ganzheit­lich. Solange sie unsichtbar bleibt, soll der reiche Gedanken- und Erfah­rungs­schatz dieses Buches die Linke stärken, ihr Bewusst­sein erhellen. Dass sie die oft kryp­tische Sprache des Meisters erhellen, ist eine der Leistungen der beiden Ver­fasser. Der Alte war ein wunder­barer Erzähler, doch vieles musste verhüllt gesagt werden, in ›Sklaven­sprache‹. Darüber sagt Gerhard Zwerenz Auf­schluss­reiches, er musste sich damit auf Vor­schlag des Lehrers befassen. Fünf­zehn Jahre haben die beiden an ihrem Buch gearbeitet. Ein schweres Geschoss. Aber weit­reichend und tref­fend. Zwar wiederholt sich manches, Striche an eini­gen Stellen hät­ten nicht geschadet. Und, wie gesagt, die Kritik am Verhalten von Exilanten, beson­ders der jüdi­schen, sollte behutsamer, einfüh­lender sein. Ach, und es gibt so viele zitat­reife Sätze. Nur einer kann am Ende stehen. Ich suche: ›Ohne Bloch ist die deutsche Philo­sophie und Politik ein Kriegs­versehrter, dem der linke Arm fehlt.‹«

Frankfurter Buch­messe 2012 – FAZ-Foto am 15. Oktober auf Seite 1 – Unter­zeile: Liao Yiwu nimmt den im Stehen dar­gebrach­ten Applaus unter anderem von Bundes­präsident Gauck, Minis­ter­präsident Bouffier und Bundes­bildungs­minis­terin Annette Schavan (von links) stehend ent­gegen. Die Buchmesse als Staatsakt. Alle stehen. Alle applau­dieren dem Frie­dens­preisträger des Deutschen Buch­handels, der seinem Land China das baldige Ende ver­kündet: »Dieses Impe­rium muss verschwinden.« Die deutschen Revolu­tionäre Gauck, Bouffier, Schavan applau­dieren leicht ver­dutzt, doch freundlich. Der Plural von Applaus heißt Appläuse. Der Friedens­preis­träger will das Impe­rium zer­schla­gen und in lauter kleine Gemeinden auflösen. Ob BMW, Mercedes, VW mit den Gemeinden so gut ins Geschäft kommen wie mit dem Massaker-Impe­rium? Doch das will der Dichter gar nicht. Die vor ihm stehenden Staats­appläuser wollen es auch nicht? Staats­akte sind eben so. Lesen in Zeiten des Urknalls – FAZ-Leitartikel neben dem Foto. Schwere Plagiats­vorwürfe gegen Schavan FAZ-Überschrift unter dem Foto. Der Preisträger beschimpft wahrheits­beflis­sen auch seine Preisgeber: »Immer mehr Chinesen werden feststellen, das es auch im demokratischen Westen weder Gerechtig­keit noch Gleich­heit gibt und dort habgierige Funktionäre und andere Profit­geier sich schamlos nach dem Muster ›Dem Sieger gehört die Beute‹ verhalten.«
  In der Tat – ein wahrer Pauls­kirchen­revolutionär. Doch da erhält ur­plötz­lich ein »Anpasser und Oppor­tunist« namens Mo Yan den Literatur­nobel­preis. Der Mann bleibt im Lande, diesem Terror-Imperium und nährt sich rötlich, wagt gar Kritik von innen, ist wohl der Reformist im Gegensatz zum in Frankfurt am Main gefeierten Revo­lutio­när? Die fixe FAZ ist gleich dabei: »Man sollte Mo Yan lesen und beim Wort nehmen. Das letzte Wort muss die Literatur haben.« Etwa wie in der Paulskirche mit den Literaten Gauck, Bouffier, Schavan? Mehr Dissidenz wagen – hier für heute ein letztes Zitat aus der FAZ (14.10.2012), dem Revolutions­blatt, in dem schon der Revolutionär Arnulf Baring vor Jahren Bürger auf die Barrikaden for­derte. Es bleibt dabei: Ohne Bloch ist die deutsche Philosophie und Politik ein Kriegs­versehrter, dem der linke Arm fehlt.
  Dieses Nachwort 94 beginnt mit der drit­ten Vorlage eines Textes. Er handelt im Prinzip vom Buch und seinem Autor. Der Ton ist aggressiv und ernennt den Leser zum Kanni­balen – die Liebe als Ich fress dich! Kann auch sein, eine Schach­par­tie wird eröffnet, der Gegner zum Kampf auf­gefor­dert. Dann philo­sophiert der Philo­soph Ludwig Marcuse über den Philosophen Ernst Bloch. Beide kennen ein­ander aus dem Exil. Bloch verübelte Marcuse einige Frechheiten, ich suche Marcuse frie­dens­stiftend auf und der ver­söh­nende Versuch gelingt. Zur Debat­te steht aber nicht irgendein Frieden. Deshalb tritt der jüdisch-links­intel­lekt­uelle Publi­zist und Theater­wanderer Jochanan Trilse-Finkel­stein an, der unser Buch Sklaven­sprache und Revolte referiert und dessen Universum nach­voll­zieht, weil es zum Teil sein eigenes ist – der lebens­lange Exil-Exkurs durch exotische, oft feindliche Welten.
  Ernst Bloch sah in Karl May nicht bloß den Abenteuer-Autor. Die Reisen des kleinen Sachsen in die damals noch unbekannten Regionen äußerer Gefahren führen mit Blochs Reisen in die Exotik menschlichen Innenlebens. Ernst Bloch als den Karl May der Philo­sophie zu be­greifen öffnet eine im bürgerlichen Hochmut verriegelte Flügeltür. Ludwig Marcuse berichtet davon mit der Faszi­nation des geneigten Zuhörers und Flücht­lings, miss­billigt aber die politi­schen Konsequenzen. Für Bloch war der Weg nach Osten nichts grund­legend anderes als der nach Westen. In der Konsequenz des Weltbürgers sind alle Wege des philo­sophi­schen Erzählens voll von den Aben­teuern, wie sie vordem im fernen Amerika oder wilden Kurdistan zu bestehen waren. Der Reisende ist überall ein Durch­reisender, sofern er den Ver­folgern entkommt.
  Die online vorhandene Serie enthält 99 Folgen. Von den beab­sichtigten 99 Nach­worten haben wir das 94. erreicht. Der Titel Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte resul­tiert aus der uner­füllten Heimat­sehnsucht, nein Jugend­romantik über­lebenslang Ver­triebener. Im Fortgang der fast 200 Folgen und Nach­worte ver­änderte sich die plural berich­tende Erzähl­weise. Ein korrigierter Titel wird not­wendig. Er lautet: Die Blochianer. Notizen von der pazi­fistischen Revolte. Vielleicht lässt sich da etwas von den Chinesen lernen – mit Marx, Laotse und Kon­fuzius. Also doch Ex oriente lux.

Ursula Krechel erhielt am 8. Oktober im Frankfurter Römer den Deutschen Buchpreis für ihren Roman Landgericht, die Geschichte von »Erfah­rungen, die ein aus der Emigration zurück­ge­kehrter jüdi­scher Richter als Staats­bürger und Jurist in den frühen Jahren der Bundes­repu­blik macht …« Geschil­dert wird »das Leid seiner Familie und das Elend anderer Opfer der national­sozialis­tischen Herr­schaft …« (FAZ 9.10.2012) Das ist schön gesagt. Dem Roman liegt ein wahrer Fall zugrunde. Seltsam nur und ein Exempel phäno­me­naler Ver­gess­lich­keit oder stu­pender Ge­danken­losig­keit in der FAZ-Redaktion ist die Tatsache, dass es exakt in Frank­furt den Fall eines ande­ren aus dem Exil heim­gekehrten jüdischen Juristen gibt, an den wir im 15.Nachwort unter dem Titel Fritz Bauers uner­wartete Rückkehr erinnern. Anlass bot Ilona Zioks furiose Film-Doku­mentation Fritz Bauer – Tod auf Raten. Mit dem Hes­sischen Gene­ral­staats­anwalt aber verfuhr die FA Z am 13.5.2009 weit weniger freund­lich als mit dem Prota­gonis­ten in Ursula Kre­chels Roman. Das Blatt rüf­felte Fritz Bauer, weil er in der Vor­bereitung des Frank­furter Auschwitz-Pro­zesses Justiz­hilfe aus der DDR nicht abgelehnt hatte. Der Redaktion fehlte immer etwas Licht aus dem Osten. Die imple­men­tierten Stahl­helme warfen und werfen zu lange Schatten.
Gerhard Zwerenz    22.10.2012   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz