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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 12. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  12. Nachwort

Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren

  Im Haus ehemalige Studentenbude von GZ, sein Pseudonym Gert Gablenz blieb dort wohnen
  


1953, 1954, 1955 schrieb ich in der Hauptsache für die Weltbühne. Um den Jahreswechsel 1955/56 wurde mir bedeutet, aus dem ZK-Apparat sei signa­lisiert worden, ich sollte nicht mehr in der Weltbühne erscheinen. Und da war ich etwas ver­blüfft, denn ich beab­sichtigte ab und zu etwas für die Weltbühne und dann alle zwei, drei Jahre einen humoris­tischen Roman über Leipzig und die Pleiße zu verfassen. Das war so meine Zukunfts­erwartung. Ich wollte lebens­länglich in Leipzig bleiben. Jetzt würde ich also sagen können, ich bin über 80 Jahre alt und habe immer an der Pleiße gelebt. Das lief aber anders. Doch die Pleiße ist mein Lieb­lings­fluss geblieben. Das beschreibe ich im Moment aus der Ferne. Die Pleiße wird sehr unterschätzt und ich hab festgestellt, also von Ost­deutschen, also was DDR gewesen ist, jeder hat irgend­wann mal an der Pleiße gestanden. Sei es als Schüler, Student oder er war an der Sport­hochschule. Die Eingeborenen aber missachten oft den Fluss als die stinkende Ruhr des Ostens. Und dabei hat Goethe in der Pleiße gebadet und für Karl May war sie der Urfluss. Für mich blieb sie ob in Irland, am Atlantik, am Golden Strand eine lebendige Erinnerung. Ich sah die Pleiße über die Elbe zur Nordsee und dann in den Atlantik fließen, dachte, ein paar Tropfen von der Pleiße sind auch hier an der Westkante von Irland vorhanden. Also ich bin ein lebenslänglich verbannter, gebannter Sachse geworden, denn ich hab ein halbes Jahrhundert außerhalb ver­bringen müssen.
Zurück zur Sache, die Weltbühne wurde mir zugemacht und zugleich machte mir der Sonntag seine Seiten auf. Und dann publi­zierte ich halt im Sonntag, das war mir ja eigentlich wurscht, wo ich schreibe, wenn ich nur alle zwei Jahre einen Leipziger humoristischen Roman vorlegen konnte. Und nun beginnt die Geschichte damit, dass ich mit einer Erzählung zu ihnen gekom­men bin und Gustav Just hatte von Brecht gerade den Rat gekriegt, mach doch also da Sachen, die zwar wichtig sind und ins Zentrum gehen, aber gefäl­lig. Gewisser­maßen ein bisschen Feuilleton und Ope­rette. Das hat Gustav mir gesagt. Dann hab ich ein Feuil­leton geschickt und er hat als Titel Leipziger Allerlei drüber geschrieben. Das ist gedruckt worden, da explo­dierten allerlei mächtige Ungeister.
Etwas später kam noch dieses Gedicht dazu, wir wollten eben ein paar Mythen zum Platzen bringen. Ich habe hier die Seite des Sonntag vom 1. Juli 1956 und die hatte Gustav auch mit zu verantworten, dafür hat er dann, sagen wir mal, von seinen vier Jahren 12 Monate für das Gedicht mit abge­sessen. So teuer können Gedichte werden. Obwohl es gar kein Gedicht ist. Ich notierte solche existen­ziellen Sätze nur, wenn mir das Leben saukomisch oder nicht zum Aushalten erschien. Das passierte mir mit 19 Jahren, als andere Gefangene und ich in Brest-Litowsk zu einem Kommando abge­stellt wurden und wir mit bloßen Händen von der Wehrmacht erschossene, polnische oder weißrussische Juden ausgruben.
Darüber kritzelte ich das erste Gedicht meines Lebens aufs Papier der Prawda. Das ist mir nach vier Jahren bei der Rückkehr an der Grenze genau in diesem Brest abgenommen worden. Daraufhin schrieb ich es noch mal. So erschien es in der DDR, ich vergaß nur wo. 1966 stand es plötzlich in einer west­deutschen Zeitung und kehrte zu mir zurück. Später hat es die junge Welt abgedruckt.
Als ich 1956 vom 20. Parteitag Aufre­gendes hörte, hielt ich im März/April jeweils abends zu Hause in meiner Studenten­bude Zeile für Zeile fest, was mir durch den Kopf ging. Die Konter­revo­lution war es jedenfalls nicht. Der Titel lautet etwas keck: „Die Mutter der Freiheit heißt Revo­lution“, und der Meinung bin ich heute noch. Das hat seinen krummen Ewig­keits­wert. Es ist mir scheißegal, in welcher Gesell­schaft es passiert, Revo­lution tut immer not. Man ist nur dumm, wenn man sie am nächsten Morgen beginnen will und niemand macht mit. Man möchte nicht ganz alleine bleiben dabei. Vorher lässt sich auf Reformen setzen, noch besser auf Reformation. Da bin ich unbescheiden. Was Luther auf der rechten Seite und Münzer auf der linken Seite als Refor­mation in die Welt setzten, war eine unge­heuer­liche Revo­lution, die nur nicht so genannt wurde. Und das geht in tiefere Schichten und ganz andere Zentren als diese lächer­lichen Revo­lutionen, die jetzt statt­finden. Wir erleben ja jeden Tag eine neue Revolution, die der Kochkunst, der Friseurkunst, soweit sind die Revolutionen verbilligt. Aber wir haben als Marxisten ange­fangen mit der Ver­billigung bis zur revolu­tionären Bankrott­erklärung.
Zurück zur Studenten­bude in dem Leipziger Haus, wo heute das Mendels­sohn-Bartholdy-Museum eingerichtet ist. Mein Zimmer lag darüber, der Komponist war schon lange tot, ich hörte aber seine Musik die Stufen hochkommen. Dazu schrieb ich meine Sätze: „Die alte Erde hält den Atem an, heißer Brodem der Revolution erfüllt wieder die Räume. Die Menschen schreien nach Zeitung, Babys schauen erstaunt, Bettler schmecken Hoff­nungs­träume. Missratne brüten Rache, ein Vertrock­neter weint Jauche, Aufgeblasene ärgern sich krumm. Leben ruft die Menge und baut Brücken ins Diesseits, die Epigonen schreien stumm ...“
In der Art geht's weiter und ich behaupte, es ist jetzt nach 50 Jahren noch frisch wie damals. Man könnte das heute genauso sagen. Die Zeitungen sind nicht mehr so, dass man sie lesen und danach aufschreien kann, die Zeitungen ent­halten ganz andere Bot­schaften von denen, die da jetzt oben sitzen. Ich fühlte mich völlig überein mit dem 20. Parteitag. Und so machte ich eben weiter im Text: „Das Leben unter Käse­glocken der Freiheit züchtet Maden, die im Abge­schlos­senen wimmeln und leben­digen Leibes ver­schim­meln. Wenn der Ofen nicht brennt, putzt ihr sein Rohr aus oder baut die Esse. Aber ihr haltet nicht Messe ...“
Dieses Rohr ausputzen ist echt sächsisch, nicht wahr, man hat das Kano­nen­rohr und das Heizungs­rohr ausgeputzt. Dann schlug ich zwischen­durch etwas heftiger zu: „Leih deine Feder keinem, schreib dich allein ...“ Da ist wohl ein bisschen Majakowski drin, vielleicht las ich ihn gerade und dachte, das passt.
In bestimmten Situationen deuten sich Alternativen an und man fragt sich, bist du Bremser oder Entbremser. Und natürlich hab ich auch an Gustav Just gedacht und war mir nicht sicher, ob die das drucken. Sie riskierten es. Am 30. Januar 1957 fand dann in Leipzig eine große Versammlung der Partei statt und die Kulturarbeiter des Bezirks wurden in Bussen zusammengeholt. Der Kultursekretär Siegfried Wagner las mein Gedicht stückweise als Beispiel von Konterrevolution vor.
Und hier ist die originale Sonntag-Seite von Siegfried Wagner, auf die er seine Anklagepunkte ranschrieb. „Die alte Erde hält den Atem an, heißer Brodem der Revolution erfüllt wieder die Räume“, dort steht davor: Wo? „Leben ruft die Menge und baut Brücken ins Diesseits und die Epigonen schreien stumm“. Anmerkung: Wer? Wer sind die Epigonen?
Diese vierhundert Kulturmitarbeiter in der Kongresshalle hörten sich alles mucks­mäuschen­still an. Das geschah zwar nach dem 20. Parteitag. Doch wer wusste schon, was noch kommen würde. Der einzige, der mir beistand, war Wieland Herzfelde. Nach der Anklagerede ging er zum Rednerpult und rügte, dass jetzt wieder stalinistische Methoden angewandt wurden. Siegfried Wagner konterte ihn hart, da ist Herzfelde, was ich verstehe, noch mal vor­gegangen und hat sich entschuldigt. Ich wiederhole, ich verstand Herzfelde. Nur war es für mich ein kleiner Weltuntergang.
Zum Schluss heißt es im Text: „ Aber Buben gleich habt ihr geschlafen, lange, nur nicht so gesund. Die Revo­lution fuhr auf Grund und das mitten im Hafen...“ Und da hat der Wagner wohl in Erinnerung ans Parteilehrjahr dahinter geschrieben: Aurora. Das hat er kapiert, die Revolution alias Aurora war auf Grund gefahren, und wenn das keine Konter­revolution ist, nicht wahr, dann heiße ich nicht Siegfried Wagner. Hinter der Zeile „Ihr schliefet den Schlaf der Unge­rechten“ notierte er: „Schlaf vergiftet Millionen“. Zwar hatte der Sonntag nicht Mil­lionen von Lesern, doch wirkte er wohl indirekt. Und nun noch zu den letzten Zeilen:„Ihr schliefet den Schlaf der Ungerechten. Erwacht und lasst uns gemeinsam besser fechten!“ Das war eigentlich der Schluss. Dann sah ich mir das an und dachte, so wird es nie veröffent­licht. Da muss ein positives Schwänzchen ran, aber das wollte ich nicht so billig machen, es sollte schon ernsthaft sein. Und darum setzte ich dahin: „Die Mutter der Freiheit heißt Revolution, die Freiheit ist Tochter, Partei ist der Sohn.“ Ich fand, für ein Schwänzchen ist es eine gute Lösung gewesen, es stimmte sogar. Also ich konnte für das Schwänzchen die Hand heben. Und Gustav hat das auch akzeptiert, er wusste ja nicht, was daraus folgte.
Siegfried Prokop:
Was hat Wagner an das Schwänzchen geschrieben?

Gerhard Zwerenz:
Es ist nicht zu entziffern. Wagner ist dann, nachdem er uns in Leipzig in Grund und Boden verdonnert hatte, in Berlin aufgestiegen, im ZK zuständig für Kultur und stellvertretender Kulturminister. Dort nahm er Heiner Müller wegen dessen Stück Die Umsiedlerin auf die Hörner. Uns trug er schon als Orden an der Brust und für die Liquidation der Umsiedlerin kriegte er das Ritterkreuz am Stalinhalsband.
In Leipzig bin ich am Ende zum Pult gegangen, las das ganze Gedicht vor. In einigen Augen meinte ich ein Flimmern der Sympathie zu finden. Zugegeben, ich verspürte die verwegene Hoffnung, es würden vielleicht drei bis fünf Personen applaudieren. Keiner hat applaudiert, und nachdem ich mir das 50 Jahre lang überlegen durfte, verstehe ich es beinahe. Das ist meine Geschichte von damals, kurz gefasst.

Frage aus dem Publikum:
Wie kam die Zeitungsseite in Ihren Besitz?

Gerhard Zwerenz:
Die hab ich aus der Behörde für ewige Wahrheiten, dem Bundesarchiv. Da besorgte ich mir all dieses Material und deshalb weiß ich auch manches, das ein wenig unangenehm ist für damals Beteiligte. Inzwischen ist das alles zur Vorgeschichte geworden.
Siegfried Prokop | 1956 - DDR am Scheideweg
Siegfried Prokop
1956 – DDR am Scheideweg
Opposition und neue Konzepte der Intelligenz
Homilius Verlag 2006
Zwei Bücher zum Knackpunkt verpasster DDR-Reformation 1956/57
Siegfried Prokop | Zwischen Aufbruch und Abbruch
Siegfried Prokop
Zwischen Aufbruch u. Abbruch
Homilius Verlag 2007
Pegasos in Ruine - Anthologie - Sensation oder Missverständnis mit dem Segen des Ministers
Von Abraham bis Zwerenz
Von Abraham bis Zwerenz
Eine Anthologie des Bun­des­ministe­riums für Bil­dung, Wis­sen­schaft, For­schung und Te­chno­logie
Cornelsen Verlag 1995
Die hier online gestellte Szene ist wörtlich so enthalten in Zwischen Aufbruch und AbbruchDie DDR im Jahre 1956 , herausgegeben von Siegfried Prokop, Kai Homilius Verlag 2006. Das Buch wird ebenso wie sein Vorgänger 1956 – DDR am Scheide­weg – Opposition und neue Konzepte der Intelligenz gern gelesen und schnell so vergessen wie die Vorgänge selbst. Erstens sind viele Zeit­zeugen ver­storben, zweitens erinnern die Über­lebenden sich ungern, denn sie wurden entweder repres­siert oder krochen zu Kreuze und durften Karriere machen. Ich verüble es keinem. Doch jetzt muss Klartext sein. Der hier im www präsentierte Text war bereits im Drei­bänder Von Abraham bis Zwerenz, Cornelsen Verlag 1995 enthalten, heraus­gegeben vom „Bundes­minis­terium für Wissen­schaft, For­schung und Techno­logie“, in Rie­sen­auflage verbreitet, inzwischen auch aus dem Gedächt­nis ent­schwunden. In diesen ersten Ver­eini­gungs­jahren hatte ein reich­lich unbot­mäßiger Staats­beamter, er heißt Wilhelm Boeger – seiner soll hier ausdrück­lich gedacht werden – eine Schrift­stel­ler-Antho­logie durch­gesetzt, die in ihrer unortho­doxen Klarsicht und Weite inzwi­schen so wahr wie zensur­bedürftig wirkt. Wer die fünf Kilo Buch noch irgendwo entdeckt, sollte sie sich sichern. So offen und ehrlich wird's nie mehr zugehen.
Mein Anteil darin ist Die Mutter der Freiheit heißt Revo­lution, kurz Frei­heits­gedicht genannt und Resultat der Tage nach Chruschtschows Anti­stalin­rede, ein paar Gele­gen­heits­strophen, die aus Bruch­stücken bestehen, ein montage­hafter Versuch eingrei­fenden Denkens, heute würden wir von Dekon­struktion sprechen: Die alte Erde hält den Atem an … (und de­kon­struiert die Propa­ganda), Leben ruft die Menge und baut Brücken ins Dies­seits (das ist bereits konkrete Utopie ...) Das war 1956 – und was wird 2010 sein?
Erich Loest beschreibt in Durch die Erde ein Riß (Hoff­mann und Campe, Hamburg 1981) die Szene so: „Am 30. Januar versammelten sich Leipzigs Genossen ›des kulturellen Sektors‹ in einem Neben­saal der Kongress­halle; es waren einige hundert. Vier Stunden lang ging Wagner zum Angriff auf alle über, die in den letzten Monaten ›geschwankt‹ hätten. Er lobte die wachsame Kirow-Sturm­abteilung ihres Faust­kampfes gegen Rudorf wegen und erntete zustim­mendes Gelächter bei dem höhnischen Satz: ›Das Platten­archiv des Genossen Rudorf wurde nicht beschädigt.‹ Nicht allzu heftig wurde L. kritisiert, aber Zwerenz bekam volle Breit­seiten ab. Wagner klaubte Zeilen des Gedichts Die Mutter der Freiheit heißt Revolution aus dem Zusammen­hang und wollte so nach­weisen, Zwerenz habe die Konter­revo­lution gemeint. Zwerenz tat das Klügste, er las das ganze Gedicht vor. Im Widerspruch erinnert er sich … “
Von hier an zitiert Loest meine Schil­derung der dama­ligen Ereignisse: „Oben auf dem Katheder stehend, angesichts der versammelten Masse von Genossen, wurde mir das Vergebliche meiner Argumen­tation klar. Ich suchte denn auch lediglich gegen Wagner anzukämpfen und ihn dermaßen zu korrigieren, daß eine möglichst große Anzahl der Anwesenden still bei sich an der Berech­tigung der Anklage zweifeln sollte. Ich mußte ihnen innerlich nahelegen, sie erschüttern in ihrer falschen Gelassenheit, sie durften nicht in die ärmliche, beschämende Selbstsicherheit der Stalin-Ära zurückfallen, in der das Wort der Partei alles, die Wirklichkeit aber gar nichts galt. In der Diskussion sprach auch Wieland Herzfelde. Sein Ton schon ließ aufhorchen. Das war nicht die Gebetsmühle eines parteifrommen Mitläufers, sondern die Stimme eines gereiften Mannes, der sich seiner revolutionären Aufbrüche erinnerte. Jedenfalls versuchte Herzfelde den versammelten Genossen ins Gewissen zu reden, der XX. Parteitag der KPdSU unterliege recht wechselhaften Wertungen, sagte er und fragte, ob man sich mit den jetzigen Angriffen auf den Genossen Zwerenz nicht schon wieder arg weit von den Ausführungen des Genossen Chruschtschow entferne.
In der Pause sprachen mich erstaunlich viele Parteimitglieder an. Wieland Herzfelde gratulierte zu meiner Verteidigungsrede, und ich bedankte mich für seine mutigen Worte. Mehrere Genossen drückten aus, daß sie die Anklage mißbilligten. Auch Übervorsichtige standen herum, brave Leute, die sich nicht festlegen wollten und nicht ja und nicht nein sagen, damit's nachher nicht hieß, sie hätten ja oder nein gesagt.
Endlich kehrten die Führungsgenossen zurück in den Saal. Kurella blieb hinter meinem Stuhl stehen und rief über meinen Kopf hinweg Wieland Herzfelde zu: ›Diese jüngeren Genossen wollen einfach nicht begreifen, daß die Partei klüger ist.‹ Herzfelde antwortete mit einem verlegenen Lächeln. ›Solche Aufstände haben wir schon vor Jahrzehnten erlebt‹, fuhr Kurella fort, ›die jungen Genossen verstehen nicht, daß sie sich der Partei unterordnen müssen.‹ Da lief Herzfelde ein feiner Schimmer von Röte übers Gesicht.
Wagner hielt eine zweite Rede, sein Schlußwort. Die Oppositionellen wurden endgültig verdonnert und zu Parteifeinden erklärt. Bevor Wagner die Veranstaltung schließen konnte, erbat Wieland Herzfelde aufgeregt noch einmal das Wort. Totenbleich stand er dann dort oben vor den Versammelten und erklärte, er habe sich nicht mit Parteifeinden verbünden wollen. Ich verübelte ihm das nicht. Er tat mir leid. Danach kam er mehr taumelnd als schreitend herunter und setzte sich auf seinen Platz, mir gegenüber, noch immer bleich und blicklos.“
  Gerhard Zwerenz beim 65. Loest-Geburtstag in Osnabrück – Als sie noch linke Freunde waren ...

Ein wenig melancholisch ist mir zumute, zitiere ich Loest, der mich zitiert. Mit der Vereinigung ging die alte Freundschaft in die Brüche. In einem Punkt muss ich mich korrigieren. Bisher erklärte ich stets mein Verständnis für das Schweigen der 400 oder waren es 600 Genossen, mit dem sie auf meine „eingreifenden Worte“ reagierten. Doch gibt es Situationen, da musst du dein Herz über die Hürde werfen. An diesem Abend des 30. Januar 1957 ahnte ich den Schmerz künftiger Feindschaften. Dreizehn Jahre früher hatte ich mich schon einmal zwischen den Fronten befunden, da waren es Wehrmacht und Rote Armee gewesen. Feindliches oder freundliches Feuer, es galt mal wieder Abschied zu nehmen. Das ist zu brav gesagt, ich fühl mich unwohl, nein speiübel. 1957 schwiegen die Leipziger Genossen in der Kongreßhalle. Auf den Colloquien 2006 zur Erinnerung an 1956/57 konnten Ingrid und ich wie einige andere aus unseren Erfahrungen erzählen. Das endete in Ironien und ich stimmte in den Ton mit ein. Vonwegen Die alte Erde hält den Atem an … Leben ruft die Menge und baut Brücken ins Diesseits …
Wir hatten die Chance zur Alternative 1956/57 verschenkt und die Erinnerung ein halbes Jahrhundert später noch verlächelt. Um radikal abzurechnen fehlten mir Mut und Wut. Von der Restalinisierung 1957 in der DDR führt jedoch eine brennende Lunte über den Untergang von 1989/90 und das nahtlos anschließende Ende der Sowjetunion in die globalen Macht- und Religionskriege des 21. Jahrhunderts. Es riecht nach 1914. Allein China wagte den 3. Weg und widerstand dem scheintoten Stalin. Ob es sich vor dem totalen Finanz-Chaos bewahren kann, wird sich erweisen. Die vereinigten Deutschländer aber marschieren traditionstreu in die nächsten Schlachten. Ihren Vätern brannte sich die sagenhaft siegreiche Stalinorgel ins Fell ein wie deren Vätern die „Schande von Versailles“. Unsere eifrigen Bundeswehr-Generäle werden alles tun, das Nieder­lagen-Trauma durch neue Sieges­züge auszulöschen. Bis zur nächsten dritten und letzten Niederlage. Wie war das doch mit Brechts Dreisatz? Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.
Die neuen Vertriebenen sind wir, die gelernten Nach­kriegs­plura­listen beider deutscher Staaten, die auf eine Alternative zur kriege­rischen Vergangen­heit setzten, bis das Gespenst, auf Gegenwart umgeschminkt, schamlos zurück­kehrte und behauptet, es sei die Zukunft. Oberst Klein, der in Kundus bomben ließ, dürfte zum 13./14. Februar in Dresdens Frauen­kirche die Gedenkrede halten. Die Toten der Bombertage von 1945 werden ihm aus ihren luxuriösen Massen­gräbern heraus gewiss applaudieren.
Gladiatoren

Der Krieg war längst verloren.
Sie weigerten sich, die
Waffen abzulegen. So starben
sie pflichtgemäß dahin.

Als die neue Grenze stand,
wollten die einen lieber
rot als tot sein und die
andern lieber tot als rot.

Als sie sich siegreich vereinigt
hatten, wurden die einen reich
und groß. Die andern waren
bald die schöne Arbeit los.

Als die neuen Krisen blühten
und die Krieger weltweit sich
bemühten, war das Glück
perfekt: Des Führers Untergang

hat seine Geister aufgeweckt
Unter dem Titel „Kein Verbrechen ohne Schuld“ schrieb der Spiegel am 22.12.91: „Für die Deutschen ist die Konfrontation mit der Ver­gangen­heit so kompli­ziert, weil sie mit der Katas­trophe der Nazi­zeit trotz unentwegter Debatten auch heute noch nicht fertig sind – und sich deshalb wohl mit viel Eifer auf die einfa­chere Abrech­nung mit dem SED-Staat stürzen: Er war ja nur ein Teil Deutsch­lands, der häß­lichere, und ist dem besseren Modell des anderen Teils schließ­lich erlegen. Womöglich reicht das Bedürfnis, nun die Nemesis walten zu lassen, in noch tiefere psycho­patho­logische Unter­gründe der deutschen Ver­gan­gen­heit: ›Offenbar suchen die Kinder Hitlers die Fehler ihrer Eltern an Stalins Knechten zu rächen‹ – auf diese Kurz­formel brachte der Linke Gerhard Zwerenz, selbst DDR-Verfolgter, im DDR-nostalgischen Neuen Deutschland das Phänomen. Und selbst die bürgerliche Neue Zürcher Zeitung beobach­tete bei West­deutschen „den Anschein, als suchten sie Ver­säum­nisse in der Auf­arbeitung des National­sozialismus zu kompen­sieren“.

Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 01.02.2010, geplant.

Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig   externer Link

Lesungs-Bericht bei Schattenblick  externer Link

Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick  externer Link

Gerhard Zwerenz   25.01.2010   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz